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Uraufführung "Katharina" im Fraumünster Zürich am 2.11./3.11.24 - Ein glückliches, klangvolles Wochenende

 

Am vergangenen Wochenende war es soweit und die Uraufführung des neuen Helge Burggrabe Oratoriums „Katharina“ stand im Züricher Fraumünster bevor. Ich hatte die Ehre, für dieses neue Oratorium über Aufbruch und Erneuerung und die letzte Züricher Äbtissin Katharina von Zimmern mit Helge zusammenzuarbeiten, da er mich für die Libretto-Texte angefragt hatte.

 

Der gesamte Entstehungsprozess war für mich eine so spannende innere Reise, weil es genau das Thema berührte, mich dem ich seit Jahren viel beschäftigt bin, sowohl in meinem Schreiben als auch in den vielen Seminaren, in denen ich mit vielen Teilnehmenden in ganz Deutschland immer wieder neu zeitgemäße Gottesbilder und mystische Erfahrungswege auslote, verbunden mit der Frage, wie wir einer so komplexen und auch krisengeschüttelten Zeit begegnen und darin unsere Gestaltungslust finden und ausfüllen können.

 

Katharina von Zimmern

 

Katharina von Zimmern fasste vor 500 Jahren einen schwierigen und folgenreichen Entschluss: sie entschied, und das ist einzigartig in Europa, in einer Hinwendung zur Reformation die Fraumünster Abtei und alle damit verbundenen Güter und Privilegien der Stadt Zürich zu übergeben, das Klosterleben zu beenden und eine Bürgerin zu werden. Damit wendete sie viele drohende Unruhen und blutige Auseinandersetzungen von der Stadt ab und wagte einen großen Sprung ins Ungewisse. 

 

Was mag sie innerlich beschäftigt haben, bevor sie sich zu diesem Entschluss durchrang? Was mag es sie gekostet haben, eine bekannte Welt, einen vertrauten Glauben und eine lange bewährte Lebensart loszulassen, um sich einer völlig ungewissen Zukunft zu ergeben? Wie trug sie die Verantwortung für eine Entscheidung, die viele Menschen mehr als sie selbst betraf? Was ging ihrer mutigen Entscheidung an innerem Ringen voraus? Und von welcher Kraft und Sehnsucht mag sie sich gerufen und umworben gefühlt haben, als sie entschied, sich einem Werdestrom zu überlassen, der alles, auch sie selbst, radikal umformen wollte?

 

Die Generalprobe

 

Als ich in der Generalprobe zum ersten mal die gesamte Komposition hörte, war ich so ergriffen und bewegt von der eindringlichen Musik, den berauschend schönen Stimmen der Solist*innen und des Chores, dass ich bereits hätte mehr als glücklich abreisen können. Helge schenkte mir die beeindruckend große und schwere Partitur (einerseits „nur zwei Zentimeter aufeinandergeschichtetes Papier“, wie Helge so schön sagt, andererseits das Gewicht von eineinhalb Jahren Arbeit und innerer Auseinandersetzung mit einem sehr zeitsensiblen Thema) und dann hieß es noch eine Nacht schlafen, bevor die Uraufführung stattfinden würde.

 

Drei Werkeinführungen

 

Am Samstag und Sonntag stellten Helge und ich in drei Werkeinführungen im Fraumünster, in der Paulusakademie und der Herz Jesu Kirche das Oratorium vor. Helge schenkte uns kostbare Einblicke in den Entstehungsprozess des Oratoriums: alles begann mit einem persönlichen Ergriffensein, einem „Funken“ von einer Idee der Erneuerung, der Werdekraft, die wie ein göttliches Agens immerzu danach strebt, Leben zu vertiefen und zu entfalten. In dieser Werdekraft stand Katharina, so wie auch wir heute darin stehen, während uns vertraute Ordnungen und Lebensweisen abhandenkommen, und wir zwischen Furcht, Fassungslosigkeit, Hoffnung und Aufbruchsfreude hin- und hergerissen sind. In den eineinhalb Jahren danach entfaltete sich eine Idee einer inneren Bewegung, die für Katharina im speziellen aber sicher auch für uns in der heutigen Zeit gelten dürfte: zunächst ist da die Konfrontation mit einer Krise, einer schmerzlichen Realität, einer erlebten Heillosigkeit. Schon hier ist die zentrale Frage: sind wir mutig genug, dem zu begegnen? Wirklich hinzusehen? Auch der Trauer und Furcht Raum zu geben? Oder möchten wir lieber fliehen, verdrängen, oder uns dem wabernden Unbehagen ergeben, das uns lähmt? Rilke sagt an dieser Stelle im Libretto: „Alle Angst ist nur ein Anbeginn“.

 

Die mutige Konfrontation mit dem was ist nimmt uns mit in die Tiefe. Abstieg ist die Bewegung, Abstieg in das Sosein der Dinge, in die Wahrheit des Zerbrochenen. Wie in der Bewegung eines „U“ sinkt Katharina, und wir mit ihr, hinab in die Tiefe, bis an den Scheitelpunkt des „U“, in dem es keine Verleugnung und kein Hadern mehr gibt, sondern nur noch nackte Augenblicklichkeit. Und hier, an diesem Punkt, am „Nur das, was ist“, ist eine Wende möglich. Ist es möglich zu sagen: Hineni, hier bin ich! Eine leise Sehnsucht darf daraus aufstehen und ihre Stimme erheben, darf locken, werben und rufen. Es ist die Sehnsucht des Werdenden, das sagt: Du wirst gebraucht. Du und Deine schöpferischen Kräfte. Du und Deine Einzigartigkeit. Du und Dein Verwobensein ins große Gewebe.

 

Von hier an geht die Bewegung wieder hinauf, hinauf in eine Seinslust, in eine neue Beweglichkeit, in ein Fließen mit dem Strom, das das Alte nicht mehr ängstlich festhalten muss. Eine Freude ohne Gewissheit breitet sich aus.

 

Helge erzählte, wie er diese Bewegung musikalisch ausdrücken wollte, in einem Dialog zwischen dem Göttlichen und der Schöpfung, warum er in manchen Passagen Improvisation und Anleihen an Atonalität einbaute und wie wichtig es ihm auch war, an drei entscheidenden Stellen im Oratorium die Zuhörenden mit einzubinden, so dass auch sie singen, was der Chor singt, und sie fühlen können, dass sie Teil dieses Prozesses sind, von dem niemand ausgenommen ist.

 

Wir bekamen Einblicke in die Konzeption, die Stimmen, die Instrumentierung, und auch in die Figur der Katharina, die von Julia Jentsch in 5 kraftvollen Monologen verkörpert wird.

 

Das Libretto – historische und universelle Ebene

 

Auch ich hatte bei den Werkeinführungen das Vergnügen, Einblicke in die Entstehung der Libretto-Texte zu geben. Mich haben beim Verfassen der Gedichte und der Prosa-Texte immer zwei Ebenen beschäftigt: zum einen die historische, und damit die Frage, in welchen Verlusten Katharina lebte, welches Unheil der Stadt drohte, und inwieweit der Shift vom „alten“ zum „neuen“ Glauben ihren Alltag und ihre Andachtspraxis veränderte, und welche politischen und gesellschaftlichen Fragen sie beschäftigten.

 

Wie mag es sich angefühlt haben, inmitten der im Umland stattfindenden Bilderstürme wie in Ittingen? In der Bedrängnis der Klöster, die ja gerade für Frauen Räume waren, in denen sie ehelos und mit Zugang zu Bildung ein anerkanntes Leben führen durften? Wie mag es sich angefühlt haben, als die Kirchen nach der Räumung wieder aufgeschlossen wurden und um viele Heiligenstatuen, Lichter, Altäre, Gemälde ärmer waren? Neben dem Leiden an Kirchenpraxis und dem Wunsch nach Veränderung wird auch ein Heimatverlust fühlbar gewesen sein. Von nun an wurde nicht mehr gebetet und gefeiert wie früher. Das Alte war fort aber das Neue noch nicht wirklich da.

 

Wie mögen die gesellschaftlichen Unruhen, die Auflehnung der Bauern gegen ihre Herren, der Zorn vieler Bürger sich angefühlt haben? Die Zerstrittenheit des Rates und der Eidgenossen? Auch die Gesellschaft befand sich in einer Zerreißprobe.

In diese Überlegungen fallen auch Aspekte der damaligen Debatten rund um menschliche Freiheit und Gestaltungskraft, die beispielsweise von Luther und Zwingli deutlich anders eingeschätzt wurden als von Erasmus von Rotterdam etwa. Katharina stammte aus einer adeligen Familie mit großer humanistischer Bildung. Sie wird diese Auseinandersetzungen um Freiheit, Grenzen und Möglichkeiten menschlichen Mitwirkens am göttlichen Schöpfungsplan innerlich bewegt haben.

 

Gleichzeitig war Helge und mir klar, dass alles innere Ausloten, was Katharina bewegt haben mag, eine große Imagination, eine Fiktion bleiben wird - weil es keine schriftlichen Selbstauskünfte Katharinas gibt. Alles, was wir heute über Katharina wissen, verdankt sich akribischer Forschung vor allem Irene Gysels und ihrer engagierten Mitautorinnen (Leseempfehlung: die beiden Bücher Irene Gysels zu Katharina), und einem aufmerksamen Lesen zwischen den Zeilen einer männlichen Geschichtsschreibung.

 

Die andere Ebene, die mich beim Schreiben des Librettos beschäftigte, ist die sehr heutige: wie oft stehen wir individuell, aber auch kollektiv, an schmerzlichen Wendepunkten, an denen etwas sich sehr geburtlich anfühlt, aber es uns viel kostet, uns zu unserer Verletzbarkeit, zum Loslassen, zu einer neuen Bezogenheit und Beweglichkeit durchzuringen?

 

Die Bewegung des „U“ ist mir vom mystischen Weg sehr vertraut. Immer wieder stehen wir im kleinen wie im großen vor der Frage, ob wir bereit sind, eine Gewissheit gegen eine Ungewissheit zu tauschen, eine Sicherheit gegen eine Unsicherheit, ein vermeintliches Nichtbetroffensein gegen ein Leiden am Leiden aller. Und auch vor der Frage, ob wir bereit sind, unsere Ohnmachtsgefühle zu verlassen, Verbundenheit und Angewiesensein zu erleben und dann empfänglich zu werden für ein Werden, das größer ist als wir und das manchmal nicht weniger tut, als uns uns selbst zu entreißen.

 

Die Texte für das Libretto zu schreiben, war ein großes Glück. Auch und gerade, weil Helge es mir so leicht gemacht hat, weil er mit großem Vertrauen in den Prozess die Freiheit atmen lassen konnte, ohne die künstlerisches Wirken nicht auskommt.

Mit der Lesung einiger Librettotexte schloss ich meine Vorträge.

 

Die Uraufführung am 2.11./3.11.

 

Und dann kam schon der Abend der Uraufführung im schönen Fraumünster, und die vorfreudige Anspannung war allenthalben zu spüren. Und wenn ich jetzt darüber schreibe, dann wie eine der vielen Zuschauerinnen und Zuhörerinnen, die von dieser Aufführung überrascht und überwältigt waren, denn auch wenn ich daran mitgewirkt habe, war ich ganz Staunen über das, was da werden wollte.

 

Als Dirigent und Fraumünster-Kantor Jörg Ulrich Busch vor die Musiker trat, war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Ich rufe Dich“ sangen die Solisten, die die göttliche Stimme verkörperten, eindringlich und hypnotisch. Von da an entfaltete sich ein musikalischer Sog, dem man sich als Zuhörende kaum entziehen kann. Der Chor nahm uns durch schwindelerregende Rhythmen mit in „Atemlos dreht sich die Zeit“, klagte herzzerreißend in „Dieser Schmerz wird nicht gestundet“ und „Es ist keine Heimat mehr unter den Sternen“. Und das Werdende, immer im Dialog mit den Menschen und wunderbar verkörpert durch die acht Solisten und Solistinnen (unten namentlich erwähnt), lockte in die Tiefe, ins nackte Sosein, tröstete in „Komm ruh Dich aus, ich weiß Du bist müde“ und riss uns mit in eine Vision von Freiheit „Wenn du frei sein willst, dann binde Dich an die Fragen, die Dich versehren“.

 

In kraftvoller Stille trat Julia Jentsch als Katharina auf und legte das Gewicht ihrer Entscheidungen in den Raum: „Heute gehe ich fort, fort von der trügerischen Ruhe der gleichbleibenden Dinge.“ und legte entsprechend der Bewegung des Oratoriums ihre alten Gewänder ab, um sich in wachsender Aufbruchsfreude mit der Grünkraft des Werdenden zu bekleiden. Das Chagallfenster vom grünenden Christus war da nicht bloß sehr passende Kulisse für dieses Oratorium, sondern ein Dreh- und Angelpunkt seiner ganzen Entstehung.

 

In den Sequenzen zum Mitsingen habe ich viele Menschen kraftvoll einstimmen und andere angerührt weinen hören. Als das Oratorium mit dem energischen und zuversichtlichen „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (Albert Schweitzer) seinen Höhepunkt erreichte, fühlte vermutlich nicht nur ich mich aufgerichtet.

 

Großer Applaus und zahlreiche Gespräche mit Anwesenden im Anschluss wie auch die zweite Aufführung am folgenden Tag machten es für mich unzweifelhaft, dass dieses Oratorium vollzieht, wofür es gedacht war: es spricht eine große Einladung aus, dem Zerbrochenen und der Furcht zu begegnen und den mutigen Schritt zu wagen, Raum für das Lebendige sein, das uns immer wieder über gedachte und reale Grenzen träumt – damals inmitten der Reformation wie heute in der Not unserer Zeit. Dieses Lebendige hat eine Richtung und eine Sehnsucht, und in seiner übersprudelnden und mitreißenden Kraft eine endlose Zartheit, die darauf angewiesen ist, gehütet und weitergegeben zu werden.

 

Danke

 

Vor Helges Komposition, Jörg Ulrich Buschs Interpretation und der Leistung der Musiker*innen und Sänger*innen kann ich mich nur verneigen. Mein großer Dank an die Solist*innen Keiko Enomoto und Muriel Schwarz, Sopran; Alexandra Busch und Ulrike Andersen, Alt; Philipp Classen und David Werner, Tenor; Uli Bützer, Bass und Jan Kuhar, Bass, an das Vocalconsort und den Chor des Fraumünsters, das Orchester le buisson prospérant (Konzertmeister: Daniel Kargerer).

Tiefer Dank auch an Michael Suhrs Lichtkunst, an Schauspielerin Julia Jentsch, die Katharina eine kraftvolle Stimme und ein Gesicht gab, in dem man sich selbst leicht wiedererkennen kann, und an den Pastor des Fraumünsters Johannes Block, der Helge und mich und dieses Projekt so herzlich willkommen geheißen (und außerdem wunderbarerweise im Chor mitgesungen) hat.

 

Außerdem möchte ich allen danken, denen es wichtig war, in diesen Tagen einige Worte mit mir zu wechseln und mich an ihrem Erleben rund ums Oratorium teilhaben zu lassen. Ich habe viele bekannte Gesichter gesehen, viele Teilnehmende auch aus meinen Kursen waren von weit her angereist um sich die Uraufführung des Oratoriums nicht entgehen zu lassen. Es waren viele schöne Begegnungen. Meine Aufnahmekapazität war zum Ende dieser Tage nicht mehr besonders hoch, aber meine Freude über alle geteilte Bewegtheit war und ist groß.

 

Und Herzensdank an Helge Burggrabe, für die Einladung an diesem Werden mitzuweben.

 

(Bild 1-9, 13, 17-22: Manuela Mordhorst. Bild 10, 11, 14: Elmar Gratz. Bild 11, 12, 15, 16 Giannina Wedde.)

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Kommentare: 6
  • #1

    Barbara Just (Sonntag, 10 November 2024 16:15)

    Dass das Oratorium "Katharina" ein bewegendes Ereignis war, das kommt während des Lesens intensiv herüber und es berührt sehr.
    Herzlichen Dank für das Mitnehmen und das Teilhaben dürfen.
    Wird dieses Oratorium auf einer CD zu bekommen sein?

    Barbara Just

  • #2

    Annette Roch mail: ar@annette-roch.de (Sonntag, 10 November 2024 17:05)

    Liebe Giannina Wedde,
    vielen vielen Dank für diesen schönen Brief und die Einführung in das Oratorium: "Katharina".
    Sollte es dieses zukünftig auch als CD geben > interessiere ich mich ganz besonders dafür.

    Alles Gute für Sie und DANK für die Möglichkeit der Teilhabe an Ihren Gedanken und Texten.

    Annette Roch
    Nehringstr.12
    14059 BERLIN

  • #3

    Martina Till (Sonntag, 10 November 2024 17:14)

    Herzlichen Dank Giannina für diesen inspirierenden Bericht von der Uraufführung Katharina.
    Die herzöffnende Wirkung von Text Musik und Gesamtrahmen lässt mich staunen und berührt sein, ermutigt den Weg zu gehen durch das U immer wieder neu.
    Ich bin interessiert am Erwerb einer CD oder mp3 oder was auch immer es geben wird.
    Es klingt durch deine Zeilen dass es sich lohnt zu warten in Geduld bis die leise Stimme der Sehnsucht zart ruft, alles JA zum Leben was es ist, und zum Werdenen, herzliche Grüße aus dem schönen Mittelfranken

  • #4

    Barbara (Montag, 11 November 2024 11:28)

    Liebe Giannina Wedde,

    vielen Dank für für Ihren ermutigenden Bericht!
    An einer CD hätte ich ebenfalls großes Interesse.
    Sicher gibt es dann einen Hinweis in Ihrem Newsletter, über den ich mich immer sehr freue!
    Alles Gute und viel grüne Schaffenkraft und -freude weiterhin!

    Barbara

  • #5

    Maria Jedlicka (Dienstag, 12 November 2024 09:31)

    Der Umgang mit unserer Muttersprache in unglaublicher Subtilität, das Auffächer von Worten zu neuer wunderbarer Schöpfung, das macht dich einzigartig. Und uns dankbar und glücklich �

  • #6

    Edith Rosenbauer (Mittwoch, 13 November 2024 10:00)

    Das große Glück, diese Uraufführung miterlebt haben zu dürfen;
    die feinfühligen, berührenden Texte und Melodien;
    das Eingebunden Sein in dem gemeinschaftlichen Erleben:
    alles ein ganz großes Geschenk. Vielen, vielen Dank dafür!