Es geht mir, wie Ihnen vielleicht auch, viel durch Kopf und Herz an diesem letzten Tag dieses bewegten Jahres. Ich kann mich nicht erinnern, zuvor schon einmal innerhalb eines Jahres so vielen
Menschen begegnet zu sein, die aussprachen, wie erschöpft, überfordert und allein sie sich fühlen. Dies ist sicher auch der Weltlage geschuldet, die massive Bestürzung und Ohnmachtsgefühle
auslöst – mit einer nicht endenden Aggression Russlands in der Ukraine, der mörderischen Attacke der Hamas auf jüdische Zivilist*innen am 7. Oktober und dem folgenden Krieg in Gaza, der unzählige
Menschenleben fordert und zerstört. Erschrocken werden wir Zeuginnen eines wachsenden Antisemitismus, eines immer unverhohlener aggressiven Rechtspopulismus, und auch die dramatischen
Entwicklungen des Klimas stellen uns drängende Fragen danach, wie Leben in der Zukunft gelingen soll.
Wir erleben zugespitzte Krisen, die Zukunftsforscher*innen gern als symptomatisch für epochale Wenden bezeichnen. Man kann es auch entlang des Spiral Dynamics Entwicklungsmodells so ausdrücken:
Unser Bewusstsein bewegt sich fortwährend zu erhöhter Komplexität und Integration – oder, um es mit Rilke zu sagen, in „wachsenden Ringen“. Zwischen den Bewusstseinsstufen oder -strukturen, die
wir individuell wie kollektiv durchlaufen, entstehen immer dann besonders dramatische Brüche, wenn der Shift in die „holistischere“ Struktur von Rückfällen in alte mindsets durchkreuzt wird. An
den Schwellen zum Neuen, zum Unbekannten, auch zur größeren „Wir“-Perspektive, holt uns buchstäblich der Schatten des Vergangenen ein, mit vermeintlichen Lösungen, von denen wir längst wissen,
dass sie keine sind und oft auch noch nie welche waren.
Beim Anblick alter Panzer und Schützengräben in Europa trifft uns unmittelbar das Gefühl, dass solche Kämpfe doch längst Geschichte sein müssten. Und wenn populistische Stimmen erkennbar eindimensionale Antworten in brennende Fragen der Zeit sprechen, können wir kaum fassen, wie viele Menschen immer noch empfänglich für das offenkundig Falsche sind, wenn ihnen nur jemand in Aussicht stellt, von Komplexität und schwieriger Eigenverantwortlichkeit befreit zu sein. Auch die verharmlosenden Stimmen, die inmitten nahezu unbewohnbarer Landstriche in Teilen der Welt immer noch sagen, es habe schon immer geregnet, zu heiße Sommer oder Artensterben gegeben, klingen für viele von uns wie Stimmen aus ferner Vergangenheit. Gefühlte Anachronismen überall.
Diese Regression, diese Bereitwilligkeit, einer immer komplexeren Wirklichkeit mit „Lösungsstrategien“ zu begegnen, deren Fruchtlosigkeit uns längst bekannt ist, ist ein menschliches Phänomen, um das zu wissen nicht nur im politischen Kontext hilfreich ist. Denn was wir politisch und gesellschaftlich – oft auch in seiner ganzen dramatischen Vulneranz - beobachten, kennen wir, in allen Schattierungen von subtil bis schwerwiegend auch aus dem Mikrokosmos unserer individuellen Entwicklung: gerade an entscheidenden inneren Wegkreuzungen, an denen wir ahnen, dass wir uns verändern, dass wir neu werden müssen, dass unser persönliches Leben uns auffordert, einen alten Glauben, ein altes Gefühl, eine alte Handlungsstrategie hinter uns zu lassen, kehren wir oft zunächst fluchtartig in das uns Vertraute zurück (oder sogar in das, was vor dem jüngst Vertrauten vertraut war und nur noch eine nostalgische und überdies verzerrte Erinnerung ist).
Wir wollen einer Welt, die in Auflösung begriffen ist, ihre Festigkeit zurückgeben, und sind dafür oft bereit, etwas zu wiederholen, von dem wir längst wissen, dass es uns und unserem Werden nicht länger gerecht wird. Auch auf dem spirituellen Weg geschieht uns das. Dann sprechen wir schlecht gealterte Gebete, die eine Gottheit anrufen, an die wir so längst nicht mehr glauben, ziehen uns zurück in die vermeintlich fraglose Stille auf dem Meditationskissen, oder wir flüchten uns in Gemeinschaften, die mehr Antworten als Fragen vorweisen können, nur um es nochmals empfinden zu können, das beruhigende Gefühl, am richtigen Ort, auf der richtigen Seite und in Sicherheit zu sein, in bleibender Gewissheit vielleicht oder in etwas, das verheißt, in einer Welt voller Erschütterungen unerschütterlich zu bleiben.
Auch dieses individuelle Phänomen ist ein Grund dafür, dass viele Menschen sich in diesem Jahr über Gebühr gefordert, gebrochen und erschöpft gefühlt haben – und das kann ich über Menschen, denen ich begegnen durfte ebenso sagen wie über mich selbst. Das Schwinden alter, an ihr Ende gekommener Lebenskapitel, Tätigkeiten, Beziehungen oder Denkgewohnheiten löst ein enormes Sicherheitsbedürfnis aus, weil aus ihm so viele existenzielle Fragen hervorgehen. Wir erhoffen uns Rettung aus der erlebten Uferlosigkeit und hören dabei allzu gern den inneren und äußeren Stimmen zu, die vom bleibenden Grund unter den Füßen sprechen. Die Fragen zu lieben, wie Rilke es so viel zitiert einst schrieb, gelingt uns immer noch zu selten. In der Verteidigung alter Antworten und Sicherheiten vor uns selbst oder vor anderen verlieren wir viel mehr Energie, als uns bewusst ist – wenn alles in Bewegung ist, kostet es einen erheblichen Aufwand, sich der Bewegung zu widersetzen.
Wenn ich aus meinem persönlichen Erleben, aus vielen Gesprächen mit an Schmerzen gereiften Menschen und aus dem Blick auf die Weltlage einen vorläufigen Schluss ziehen möchte, so ist es der, dass wir lernen müssen -und verzeihen Sie, dass ich aufgrund der empfundenen Dringlichkeit an dieser Stelle nicht „dürfen“ sagen kann- beweglich zu sein. Mehr noch als das: dass wir lernen müssen, das Beweglichsein und Beweglichbleiben nicht als lästige Erfordernis zu akzeptieren, sondern als Lebensweise zu lieben. Beweglichkeit entspricht viel mehr als wir zu glauben bereit sind, unserer Natur.
Mir scheint, dass wir, so progressiv wir in vielen Dingen sind, an vielem gestrigen festhalten und darin starr und unbeweglich sind. Dass wir immer noch den Standpunkt mehr schätzen als das Unterwegssein, das Glück mehr als die Traurigkeit, den Besitz mehr als das Unverfügbare, die Antwort mehr als die Frage und das Bleibende mehr als das Werdende. Und damit bringen wir uns selbst um die Schönheit unseres Werdens, noch während wir das Werden in der Natur bestaunen, als folgte es ganz eigenen Gesetzen und hätte nichts mit uns zu tun.
Was wäre denn, wenn wir lernten, uns mit der Endlichkeit aller Dinge anzufreunden, die ein Fließen von Werden und Vergehen ist? Wenn wir übten, uns mit der befreienden Kraft und atmenden Weite der Ungewissheit anzufreunden, die uns auf so heilsame Weise einer Gewohnheit und Enge des Immergleichen entreißen kann? Die uns daran erinnert, dass es lebendige Welten jenseits des für uns Denkbaren gibt? Was wäre, wenn wir die vielen Zwischenzeiten und -räume nicht so sehr fürchteten, an denen wir unsere alte Haut nicht mehr tragen können, eine neue uns aber noch nicht umschließt? Wie viele Verstrickungen lösten sich wohl, wenn wir bereit wären, allem was ist und allem was fehlt, mutig und wach zu begegnen, anstatt immer wieder auszuweichen? Wie viele Wege öffneten sich wohl vor uns, wenn wir uns mit der schöpferischen Sehnsucht vertraut machten, die aus jedem Schmerz aufsteht und uns bittet: „Lass dich bewegen“?
Wir verkennen, was es für ein Glück ist, miteinander verbunden und aufeinander angewiesen zu sein. Was möglich ist, wenn wir einander darin beistehen, Andere zu werden und einander darin ermutigen, das Unerreichbare zu ersehnen. Was möglich ist, wenn wir ergreifende, nährende und wärmende Visionen vom Zukünftigen entwickeln, wie es früher wohl nur die Religionen und die Literatur taten und wenn wir bereit sind, die Spannung auszuhalten und auszutragen, die zwischen dem status quo und dem Lockruf der Zukunft besteht. Uns ist noch gar nicht ausreichend bewusst geworden, wie sehr Innenwelt und Außenwelt verwoben sind, und dass auch alles, was wir träumen, in Schrecken, in Gleichgültigkeit oder in wandernder lustvoller Sehnsucht, in dieser Welt Gestalt annimmt. Wir sind nicht bloß Zuschauende, wir sind Hervorschauende und Hervorgeschaute. Wir sind nicht nur die, die wir sind – wir sind die, die wir werden, sind Teil eines Werdens, das weit über das menschliche hinausweist. Jedes Werden aber setzt unser Ja zu Beweglichkeit voraus.
Ein Ja zu Beweglichkeit mag uns viel kosten. Es ist eine Kunst, sich nicht überwältigen zu lassen, von erlebter Ohnmacht, von Ratlosigkeit und von der phlegmatischen Hoffnung, alles möge bleiben wie es ist, so wie es eine Kunst ist, sich nicht von den immer gleichen alten Antworten verführen zu lassen, gegen die selbst noch die Klügsten unter uns nicht immun sind. Und es erfordert eine wachsende innere Freiheit, das Geschenkte wie das hart errungene, das Liebgewonnene und das Identitätsstiftende immer wieder herzugeben und zu verlassen, für das Fremde und Kommende, das uns schon umwirbt. Es ist auch ein Willensakt, die Angst abzulegen, dass wir uns selbst nicht mehr wiedererkennen könnten, wenn wir Andere werden. Aber wenn wir diese Beweglichkeit wagen, wenn wir bereit sind, immer wieder fortzugehen, von uns selbst und der Idee, die wir eine Weile bewohnten, von der Erwartbarkeit und von der Müdigkeit, die uns oft befällt wenn Dinge beschwerlich oder bedrohlich werden, dann kann etwas uns berühren, von dem wir vielleicht nur ahnten, und wir hören ein neues Leben leise Atem holen.
Viele von uns wünschen sich, dass die Dinge anders werden. Dass die Welt anders wird, in der wir täglich erwachen. Im Deutschen sagen wir „einen Wunsch haben“, als wäre er eine Habseligkeit, oder „sich etwas wünschen“, als flösse ein Wunsch immer einem selbst zu. Im Englischen wiederum heißt es „make a wish“ als sei ein Wunsch etwas, das wir machen, als sei er selbst Handlung und wolle in Handlung überführt werden. All das ist wohl wahr, und wahr ist auch, dass wir ein Wunsch sein können, einen Wunsch verkörpern können – den des Lebens selbst, immer wieder über sich hinauszuwachsen, sich zu verwandeln und etwas Neues zu werden.
Ich wünsche Ihnen und uns allen an dieser Schwelle ein gutes neues Jahr, in dem wir das Wagnis eingehen, Bewegte, Bewegliche und Bewegende zu sein und neues Leben in unserer schmerzenden, blühenden Mitte willkommen zu heißen.
An der Schwelle zum neuen Jahr
Lass dich bei deinem Namen rufen,
über die Gräben und Grenzen hinaus.
Lass dich heraufbeschwören
vom Vertrauen des Beginnenden,
vom neuen, unberührten Jahr,
das die Haut des Vergangenen abstreift.
Leg auch du das Vergangene ab.
Was du gefeiert und bedauert hast,
was du festgehalten und fortgewünscht hast,
liegt hinter
dir.
Lass dich daran erinnern, wie es ist,
dem Tag mit offenem Herzen zu begegnen,
jeder Verletzung und jeder Furcht zum Trotz.
Immer neu fließt dir ein ganzer Kosmos entgegen
aus dem Mittagslicht über der Kastanie,
aus den blauen Augen des Eichelhähers
und aus dem Glück,
einen Zweifel
überwunden zu haben.
Bedauere dich nicht
und auch nicht die Menschen,
die schmerzlichere Wege beschreiten als du.
In dir fließt wie in allem
der klare Strom des Mitgefühls,
und es genügt, sich ihm nicht in den Weg
zu
stellen.
Gib dich zu erkennen.
In jeder Begegnung wage es ein wenig mehr,
du selbst zu sein.
Du selbst,
ein wurzelndes Geheimnis,
ein Lied aus dem fliehenden Klang der Zeit,
eine Liebe, die sich erinnert.
Halte dem Regen deine Hände hin.
An jeder Kreuzung danke deinen Möglichkeiten,
und bitte jeden Fels um Rat,
dem
du zum zweiten Mal begegnest.
Nimm dir die Freiheit,
frei von dir zu sein,
wann immer du die Weite einer Frage spürst,
die größer ist als du.
Lass dich beschenken.
Und schenke diesem neuen Jahr
dein schöpferisches Träumen,
das am dunklen Grund des Winters,
im wogenden Gold des Sommers
und im Herzschlag aller Zwischenräume
zu Hause ist.
(aus: Giannina Wedde, In winterweißer Stille, Vier Türme 4. Auflage 2023)
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Steffi Hobuß (Sonntag, 31 Dezember 2023 22:10)
Liebe Giannina,
vielen lieben Dank für diesen wunderbaren Text, der mir gerade jetzt so aus dem Herzen spricht!
Wünsche Dir und allen Menschen, dass wir im neuen Jahr lebendig sein können und damit zum werdenden Frieden beitragen!
Gangolf Ehlen (Montag, 01 Januar 2024 10:05)
Guten Morgen, liebe Giannina Wedde, was für ein Unterschied. Bevor ich Ihren Text las, habe ich die Neujahrspredigt unseres Aachener Bischofs gelesen und dachte an den Satz eines Aachener Priesters, der sagte, ein Bischof müsse spirituelle Schneisen schlagen.
Diesen Anspruch erfüllte seine Predigt leider nicht, Ihr Text umso mehr. Danke dafür und alles Gute für das neue Jahr!
Melitta Schäfer (Montag, 01 Januar 2024 13:58)
Liebe Giannina,
ich habe nicht gesucht, ich wurde gefunden ... von Ihren Gedanken, Ihren Worten, denen ich mich überlassen konnte und kann, irgendwie hingebungsvoll, nicht erklärbar, aber erfahrbar ... - wie eine liebevolle Umarmung ... Vielleicht...
Danke, liebe Giannina, Ihnen und allen hier Lesenden ein segensreiches Jaht 2024 !
Melitta
Andrea (Montag, 01 Januar 2024 16:05)
... ja, schenke dieser Zeit 'dein schöpferisches Träumen'. Wunderbar! Strecke deine Finger auch nach den Nesseln aus. Zwischen zwei Schlägen deines Herzens wartet ein Universum darauf, dich zu berühr'n und nach Haus' zu führ'n...
Vielen, vielen Dank für diese tiefe Verbundenheit.
Zeitwiese (Montag, 01 Januar 2024 18:11)
Mit diesem Gedicht bin ich heute spazierengegangen und habe es mir im Wald an einer aussichtsreichen Stelle in aller Ruhe 2 x laut vorgelesen und auf mich wirken lassen. Die Einladung darin zum Loslassen und Einlassen auf das Kommende, vor mir liegende, tat mir gut und stärkte mich federleicht trotz allem, was gerade schwer ist.
Oda Wöllner-Forchert (Dienstag, 02 Januar 2024 00:00)
Liebe Gianna Wedde, Danke für diese trostvollen und zuversichtlichen, ermutigenden Worte. Sie sind für mich wie eine spirituelle Hebamme, die meine persönliche Essenz ans Licht holt. Läuterung pur. DANKE ❤️
Doris Barnert (Dienstag, 02 Januar 2024 08:18)
Einfach nur DANKE für diesen wunderbaren, inspirierenden Text
Sandra Büchel-Thalmaier (Dienstag, 02 Januar 2024 09:23)
Danke für deine Gedanken, die in mir vieles anklingen lassen. Sich nicht in Schein-Sicherheiten flüchten, sondern inmitten von Unsicherheiten beweglich und mitfühlend bleiben...
Therese Gisbertz-Adam (Dienstag, 02 Januar 2024 12:24)
DANKE! � ☀️
Birgit Eiler (Donnerstag, 04 Januar 2024 04:21)
Vielen Dank, für diesen wunderbaren Text. Ich wünsche euch allen ein bewegtes neues Jahr 2024.
Silvia (Samstag, 06 Januar 2024 10:14)
Wie wunderbar geschrieben!!
Vielen Dank!
Konrad (Sonntag, 07 Januar 2024 20:26)
Danke, liebe Giannina,
von Herzen Dank für deine Gedanken an der Schwelle zum neuen Jahr.
In Verbundenheit, ubuntu
Konrad
Kirsten Hartmann- Pfeiffenberger (Dienstag, 16 Januar 2024 09:26)
Liebe Giannina,
ich habe Ihre Zeilen nicht zum Jahreswechsel gelesen, sondern erst jetzt – und sage von Herzen danke!
Danke, für diese wundervollen wahrhaftigen, Trost spendenden und beflügelnden Worte��
Ich kann mich sehr an diesen weitreichenden Zeilen aufrichten und wünsche mir eine große Erreichbarkeit ��
Gerade diese Beweglichkeit ist es ja, die uns jeden Morgen grüßt – sowohl individuell, als auch im Kollektiv – bis wir sie annehmen…
Herzlichst,
Kirsten Hartmann- Pfeiffenberger