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Heute will ich es wagen

Fragtest du mich, worunter ich leide,
so schwiege ich von den Einsamkeiten, die mich befallen,
selbst unter Menschen, deren Hände und Worte warm sind
und weich wie der Duft der Magnolie.
Auch von durchbangten Nächten, in denen ich manches Unheil erwartete das niemals eintrat, schwiege ich, wie von den Tagen,
an denen ich blind für das Wunder blieb, das mich atmend umspinnt.
Ich spräche nicht von den Wunden und Narben, von denen ich ahne
dass sie mich zeichnen, doch nicht entstellen,
und nicht von den schwerer werdenden Gliedern,
der wachsenden Müdigkeit, die manchmal selbst tiefer Schlaf nicht mehr besänftigt.
Ich spräche auch nicht von den Kostbarkeiten, die ich verlor,
wie wir sie alle verlieren an die unerbittliche Hand der Zeit.
Nicht von unerhörten Gebeten. Nicht von unerwiderter Liebe.

Doch vom Versäumnis.

Dieser um reifendes Leben gebrachten Möglichkeit.
Von der Stille, der ich nicht erlaubte, mich zu verführen
zur Schönheit und zum Schrecken des Augenblicks.
Vom Ja, das ich nicht aussprach, weil ich mich schämte bedürftig zu sein.
Vom Nein, das mir unsagbar blieb, weil ich nicht wagte, die heilige Grenze zu hüten.
Vom ermutigenden Blick, den ich nicht verschenkte,
an einen Menschen ohne Zuversicht.
Von Verzeihung, um die ich nicht bat.
Von der schmerzlichen Wahrheit, die zu ertragen ich mir nicht zutraute.

Ich spräche vom ersten Schritt, den ich nicht ging,
obwohl die weglose Fremde unablässig von mir träumte.
Von der Süße der Freiheit, die ich nicht schmeckte, weil ich selbst
mich nicht aus der Furcht entließ. Auch von der Weite, die ich nicht wagte auszufüllen, mit meinem Atem und meiner Sehnsucht, mit dem Staunen, das manchmal, wenn wir uns selbst vergessen, so überreich aus unserer Mitte fällt.
Ich spräche von den Worten, die mir nicht über die Lippen kamen,
als Du vorübergingst, obwohl sie wahrer gewesen wären als alles, was ich je sagte.
Du, anmutig wie die sternklare Nacht, herrlich fremd und grundlos vertraut, allem verwandt, was Leben verheißt.

Jedes Versäumnis ein Geist, der mich plagt.
Doch nicht heute.
Denn heute will ich es wagen, ganz hier zu sein,
heute will ich leben wie eine, deren Haut ein Kleid ist, nicht Rüstung,
und deren Herz ein Flussbett, durch das die Ströme rauschen.
Heute werde ich leben, ohne Verlorenheit,
aufgelesen von meinem Wollen und der Freude des Tages an mir, seinem Kind.
Ich werde den Klang meiner Träume teilen und das Geheimnis darin, das webt und atmet,

auch ohne mein Begreifen.
Werde hinabgehen zum Kummer der Stunde und hinauf zur Freude, die mich übersteigt.
Werde bei mir sein auf eine Weise, die mich der Welt nicht nimmt,
die mich verschenkt, auch an meine alt gewordenen Untröstlichkeiten und an die Risse,

durch die das Licht sich den Weg bahnen muss.
Zwischen zwei Lidschlägen werde ich ihr begegnen,
die mich lockt und ruft, die mich hält und entlässt,
ihr, der Unbekannten, die ich noch werden darf.

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