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Notizen zu Corona V: Sehnsucht, Krise und Befreiung. Was erschaffen wir?

"Was fehlt dir am meisten?" höre und frage ich in letzter Zeit häufiger, in Bezug auf die Lockdowns, aber auch auf das pandemische Geschehen schlechthin, das uns in vielen Dingen zurückhaltender und vorsichtiger macht. Es ist nun fast ein Jahr Ausnahmezustand. Gewisse Dinge sind neue Gewohnheiten geworden. Hier und da hat sich ein Dauerverzicht breitgemacht.

Also, was fehlt dir am meisten? Da höre ich oft: "Berührung". Die Liebsten, die Freund*innen, die Bekannten einfach mal sorglos in die Arme schließen, sich nah sein, in die Augen schauen, den Atem des Anderen im Gesicht spüren, Hände halten, ermunternde Gesten, ein Berühren der Schulter, der Wange, ein herzhaftes Lachen und herrlich viele Aerosole. Neulich schaltete eine mir liebe Künstlerin in den USA ihre Facebooklivecam an und sang spontan und so flehentlich, dass ich Mühe hatte, die Tränen zu unterdrücken: "Please touch my hair", wieder und wieder, wie ein sehnsuchtsvolles Mantra der Einsamkeit.

Was ich noch höre: "Mir fehlt die Sorglosigkeit. Die Freiheit von Angst." Seit wir den Gedanken verinnerlicht haben, wir könnten Menschen, womöglich sogar jemanden den wir lieben, unwissentlich infizieren, ist die Sorglosigkeit von Begegnung dahin. Aus Liebe zu den Eltern und Großeltern besuchen wir sie nicht, aus Fürsorge fassen wir den Anderen nicht an, aus Verantwortung verlegen wir unsere physischen Begegnungen, vielleicht die ohnehin wenigen die wir haben, aufs Telefon, auf Zoom, Hauptsache wir tragen den Tod nicht ins Haus derer die wir lieben. Wer Nähe empfindet, geht also auf Distanz, wer Verbundenheit empfindet, meldet sich aus der Ferne. Und verzichtet auf Erfüllung der Sehnsucht.

"Mir fehlen Konzerte, Theater, Kleinkunst, Bühne!", weil Musik mehr ist als eine CD zu hören uns fasziniert den eigenen Empfindungen nachzugehen, weil Theater mehr ist als eine verkörperte Geschichte auf einer Bühne zu betrachten - weil Menschen, die eine dieser Erfahrungen teilen, nicht nur gemeinsam etwas erleben, sondern gemeinsam etwas erschaffen. Kunst - ein schöpferisches Ereignis zwischen vielen.

Auch wir, die wir die Pandemie miteinander erleben, erschaffen gemeinsam etwas. Wir mögen physisch nicht verbunden sein, einander womöglich niemals begegnen, und doch sind wir Teil einer kollektiven Erfahrung, die zutiefst ambivalent ist: wir erleben zum einen eine existenzielle Angst, Bedrohung, und eine bodenlose Unsicherheit, und zum anderen eine Unterbrechung, eine Aussetzung all dessen, was wir für normal hielten, und hinter diesem Einbruch der Normalität lockt ein Gefühl der Befreiung. Denn durch jede Unterbrechung diesen Ausmaßes können sich Verunsicherung, Irritation oder Verstörung einstellen, aber am Grunde dieser Empfindungen warten Fragen, die uns im Grunde an jeden Morgen neu begrüßen: Wie und was lebst du? Wie und was willst du leben? Viele empfinden gerade das als heilsam, als Chance, als Ausweg aus einem Lebenswandel der das Wort "Normalität" nicht verdient.

Schon im letzten Jahr haben wir uns redlich bemüht, der Krise das Positive abzugewinnen, viele sprachen von seliger Entschleunigung, Lockdown als Calmdown, Homeoffice als Widerstand gegen die Lohnarbeit wie wir sie kennen, und der säuselnden Frage nach dem Wesentlichen als neuer Lebensaufgabe. Manch einer spöttelte, na schau, die Welt, ein Esoterikworkshop, und das sogar kostenlos, und wie vieler Privilegien es bedarf um sich inmitten einer weltweiten Pandemie solche Fragen stellen zu dürfen, das brauchen wir nicht zu erwähnen.

Inzwischen kommen die Klänge von Erleichterung und Entlastung vielen nicht mehr über die Lippen - etliche Lockdownwochen und 45.000 Tote später. Es sind so viele Menschen einsam, ohne jeden Beistand und womöglich in tiefer Angst gestorben, dass ich kaum daran denken kann, ohne dass es mir den Atem verschlägt. Und so viele dieser Tode wären vermeidbar gewesen, hätte die Politik und hätten auch viele von uns angemessener, schneller, weitsichtiger, mutiger und mitfühlender reagiert. Noch viele große Herausforderungen stehen uns bevor. Die Mutationen, die Impfstoffverteilung, die sozialen Ungerechtigkeiten. Die Konflikte, die Spaltung, die Grabenkämpfe. Die ganze Pandemiemüdigkeit mit ihrer Gereiztheit, ihrer Ungeduld, ihrem Überdruss.

Wenn uns also am Morgen die Frage grüßt, wie und was wir leben und leben wollen, dann nicht als privilegiensatte Wohlfühlfrage, sondern als brennende, stechende und unerbittliche Frage, die den Dingen auch schon innewohnte als wir von der Pandemie noch nichts ahnten, als die Pandemie das Offenkundige noch nicht so schmerzlich sichtbar machte. Wir sind verbunden. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir erschaffen gemeinsam etwas. Wir erschaffen Systeme der Angst, wir erschaffen Strukturen der Unterdrückung, wir erschaffen Orte der Hoffnungslosigkeit.

Und genauso andersherum: wir erschaffen Weite und Freiheit, wir erschaffen Rechte für alle, wir erschaffen blühende Gärten der Hoffnung. Was wollen wir also heute erschaffen?

Wie sehr sich Menschen nach Gärten der Hoffnung und nach Verkörperung des Guten sehnen, das konnten wir eindrucksvoll in den social media beobachten, als die Inauguration Bidens stattfand, und die junge Poetin Amanda Gorman mit der Magie ihres Gedichtes alle in ihren Bann zog. "For there was always light. If only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it." (Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.) Unzählige male wurden diese Zeilen in den social media geteilt, ich wage zu behaupten, weil sich so viele in dem Wunsch wiederfinden, Licht zu sein, und dem zu trotzen, was Menschen dazu zwingt, immer unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.

Auch das zahllose male kreativ interpretierte Bernie-Meme, das durch die Weiten des Web zog, verrät eine vielleicht gerade in Pandemiezeiten tiefsitzende Sehnsucht: die nach grundlegender Veränderung, nach einer neuen Lebensart, einem neuen Gesicht der Politik. Nach sozialer Gerechtigkeit, nach Verantwortung statt Macht, nach Bescheidenheit statt pompöser Selbstüberhöhung, nach Authentizität statt Performanz. Bernie Sanders wirkte auf der Bühne, auf der wir bis vor kurzem noch einen feindselig rasenden machthungrigen Egozentriker wie Trump erlebten, wie ein Schauspieler, der vergessen hat sein Kostüm anzuziehen und seinen Text mitzubringen - weil unsere Zeit sich eben nicht nach einem "The show must go on" sehnt, sondern nach einem Ende der Show und einem Beginn des Wahrhaftigen: nach einem aufrichtigen Ja zu Menschlichkeit und zu einer Politik, die nicht ihr lebender Widerspruch, sondern ihre sich verwirklichende Tat ist.

Eine Spiritualität des Werdens, eine im weitesten Sinne evolutionäre spirituelle Philosophie, denkt den Menschen als sich entfaltendes Bewusstsein, und unsere Entfaltung, Vertiefung und Verzweigung als schöpferisch. Ein doppeltes Angewiesensein tritt hier zutage: zum einen sind wir auf "Gott" als Urgrund, Quelle und Ziel allen Bewusstseins angewiesen, da wir unser Leben nicht vertiefen können ohne dieser erschütternden und entgrenzenden Kraft zu begegnen; zum anderen ist "Gott" auf uns angewiesen, da Inkarnation auch bedeutet, der Zeit und Materie unterworfen zu sein. Leben ist Werden. Welches Werden wollen, suchen und schaffen wir? Und wie erschaffen wir etwas, gerade in so unruhigen Zeiten wie diesen?

Eine Frau sagte mir neulich, seit der Pandemie habe sie einfach keine Zeit mehr für sich selbst. Das Paradoxe an dieser Aussage ist, dass sie seit März 2020 nur noch wenig arbeiten kann, die meiste Zeit über zuhause und mit sich allein ist, und dass sie rein objektiv betrachtet sicher noch nie über so viele Zeitstunden frei verfügen konnte wie seit Beginn der Pandemie. Und doch hat sie, wie viele andere auch, das Gefühl, diese Zeit nicht für sich nutzen, nicht für sich fruchtbar machen zu können. Das hat vor allem zwei Gründe: zum einen ist ein nicht unwesentlicher Anteil dieser Zeit mit einer Grundnervosität und Beunruhigung besetzt, so dass sie einfach nicht die Ruhe findet, Dinge zu tun die sie gerade tun möchte. Innere Frei-Räume, die wir für jede tiefe Erfahrung brauchen, sind derart mit einem Grundrauschen der Anspannung kontaminiert, dass keine Sammlung und Verwirklichung möglich scheint. Zum anderen sind viele Dinge, inmitten derer diese Frau sich als lebendig und verwirklicht betrachtet, als äussere Tätigkeit derzeit nicht möglich (beispielsweise Singen in Gemeinschaft, Tanzen, Geselligkeit). Das mich als Person Konstituierende, beispielsweise der Blick des Anderen, eine gemeinsame sinnliche Erfahrung, eine gemeinschaftliche Praxis künstlerischer oder religiöser Natur, entfällt, und hinterlässt womöglich nur ein tiefes Gefühl, sich selbst verloren gegangen zu sein.

Da es vielen von uns derzeit so geht, dass unsere inneren Räume besetzt oder vernebelt sind, und dass unsere äusserlichen Arten des Ausdrucks eingeschränkt sind, ist die Frage "Wie und was lebst du?" und damit auch die Frage "Was erschaffst Du?" (oder: "Was entfaltet sich durch dich?") eine besonders delikate. Denn gerade hier, inmitten der Krise, inmitten des Einbruchs (ver-)störender Wirklichkeit, wäre es heilsam und gut, begriffen wir alles Geschehende als sinnvolle Offenbarung, und uns als Menschen, die sich selbst umzugestalten aufgerufen sind. Es wäre heilsam und gut, sammelten sich in uns die Kräfte, die etwas Neues, etwas Not-wendiges in die Welt bringen, etwas, das sich durch die so schmerzlichen Geburtswehen beispielsweise einer weltumspannenden Krise Raum verschaffen will. Und gut wäre es auch, machten wir uns dazu all das bewusst, was uns derzeit schmerzlich fehlt, ebenso wie die Dinge, derer wir überdrüssig sind und zu denen wir nicht zurückkehren wollen.

In den großen Religionen, aber auch in der Mythologie und Magie erfahren wir in vielfältigen sprechenden, symbolträchtigen Bildern und Geschichten einiges über die verschiedenen Qualitäten schöpferischer Kraft. Wir hören etwa von Dingen, die wir:

- aus Unkontrolliertheit/Unbewusstheit erschaffen

- aus Nachlässigkeit/Versäumnis erschaffen

- aus Willen/Bewusstheit erschaffen

- im Traum/Imagination erschaffen

- im Zusammenklang mit Anderen erschaffen

Sich diese verschiedenen Gesichter schöpferischer Kraft zu vergegenwärtigen, und sich bewusst zu machen, dass Zukunft sich in und durch uns erschafft, ist gerade in diesen Zeiten eine wertvolle Übung. Gerne führe ich diese Themen in kommenden Artikeln weiter aus.

Bis dahin wünsche ich uns allen kostbare Zeit und freie Räume für Betrachtung, Austausch und Ermutigung.

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Angelika Jacobs (Sonntag, 31 Januar 2021 17:50)

    Ich danke Dir.

  • #2

    Dagmar Spelsberg-Sühling (Sonntag, 31 Januar 2021 19:28)

    Danke, das ist wunderschön und klar beschrieben!

  • #3

    Heike-Alice G. (Montag, 01 Februar 2021 00:07)

    Vielen Dank für diese liebevollen, mitfühlenden umd weisen Worte. Auch das ist Berührung.

  • #4

    Beate H. (Montag, 01 Februar 2021 12:21)

    Danke für die Zeilen!
    Wir sind übergreifend aus der Illusion der Kontrolle und dem Traum von Sicherheit erwacht. Nun können wir zusammen anfangen, das Leben wahrzunehmen als Aufforderung zum "Tanz" ... zu heilenden Beziehungen auf allen Ebenen. Hoffen wir, dass es gelingt.

  • #5

    Angelika (Montag, 01 Februar 2021 12:34)


    "Das Paradoxe an dieser Aussage ist, dass sie seit März 2020 nur noch wenig arbeiten kann, die meiste Zeit über zuhause und mit sich allein ist, und dass sie rein objektiv betrachtet sicher noch nie über so viele Zeitstunden frei verfügen konnte wie seit Beginn der Pandemie. Und doch hat sie, wie viele andere auch, das Gefühl, diese Zeit nicht für sich nutzen, nicht für sich fruchtbar machen zu können. "

    Und ich dachte, es geht nur mir so und habe da ein persönliches Problem.
    Nun es bleibt mein persönliches Erleben, doch es tut gut zu lesen, dass die Gründe dafür nicht nur in mir liegen. DANKE !!!
    Ich freue mich schon auf deine folgenden Artikel zu dem Thema...

  • #6

    Imke (Montag, 01 Februar 2021 13:58)

    Was für ein großartiger Text, liebe Giannina, Du rührst mich zu Tränen.